An einem Tag, an dem das Einkaufen keinen Spaß machte, an dem ich Stress und Frustration in so vielen Gesichtern sah, an einem solchen Tag fiel mir in der Mall in Q7 das Werbebild eines jungen Mannes auf, in dessen Gesicht ich wie in keinem anderen alle Traurigkeit und Trostlosigkeit wiederfand. Ja es schien, als nehme er stellvertretend für uns jenes zwangsläufig unbefriedigte Dasein auf sich und seine übergroße Darstellung erweckte den Eindruck, er habe uns als Vorbild zu dienen. In dieser Vorbildlichkeit gibt es keine Freude und keine Erwartungen. Wir schauen mit ihm in eine Leere und vermissen nichts. Keine Sehnsucht, kein anderes Leben. Kein Aufstand, kein Geschrei. Seine Gesichtszüge erinnern mich an Mick Jagger. I can´t get no satisfaction. Kein weiterer Versuch mehr. Zu oft schon vergeblich. Es ist vorbei. Nebenan eine Video-Schleife in schwarz-weiß. Ein alter Mann zeigt mit Stolz sein bärtiges Gesicht, der High-Dynamic-Range-Effekt verstärkt die grobporigen Spuren seines offensichtlich erfolgreichen Lebens. Es war einmal. Die Zukunft wird faltenfrei. Eure perfekte Welt, sagt der Junge, hat mir die Hoffnung genommen. Aber ich weiß, dass Perfektion eine Illusion ist. So habe ich weder Hoffnung noch Illusion. Du kannst dir denken, dass ich geweint habe, sagt er. Es ist nicht so, dass ich cool bin. Es ist nicht so, dass ich klar denken könnte. Meine Augen müssen viel sehen. Es ist so, sagt er: Ich bin jung. Ich habe Gefühle und ich bin einfach traurig. Traurig und müde.
Kurz spielte ich noch mit dem Gedanken, im unteren Stockwerk bei Schnaps und Liebe einen zu zwitschern, aber dann ging ich doch gleich nach draußen und fand, wir hatten mal wieder ein echt komisches Wetter. Ich habe keine Ahnung, was es mit dem Burschen sonst so auf sich hat, aber ich denke, er hat einen guten Job gemacht.
Der traurigste Junge der Welt
Q7,Q6 Mannheim
Schaufenster Seidensticker
(284) 09.2017
Nach diesem Anblick und den zugehörigen Gedanken wäre ein Schnaps wahrscheinlich keine schlechte Idee gewesen … 🙂
🙂